Hans Ulrich Gumbrecht - zu Gast im Internationalen Forum im WS 2007/08

Eine Universität der Zukunft – ohne Geisteswissenschaften? - Ein Gespräch mit Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht

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Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht bei seinem Vortrag

Herr Gumbrecht, was ist Ihrer Meinung nach die zentrale Aufgabe der Geisteswissenschaften (GW)?
Ich denke, Aufgabe der GW ist es, die Welt komplizierter zu machen, das heißt, Fragen zu produzieren, die verunsichern. Gerade in den letzten Jahren laufen für meinen Geschmack viel zu viele Zeitgenossen mit tiefen Überzeugungen durch die Welt, die überhaupt nicht verstehen können, wie man anders denken kann als sie. Ich glaube tatsächlich, dass die GW eine Art produktiver Verunsicherung produzieren, je mehr sie sich auf das konzentrieren, was ich „riskantes Denken“ nenne. Eine Aufgabe, die keine andere Institution in den modernen Gesellschaften übernimmt.

Haben die GW nicht auch orientierende und bewahrende Funktionen?
Gumbrecht: Mir ist immer ein wenig unwohl, wenn ich höre, die GW sollten orientierung stiften. Ich denke es gibt genügend Institutionen, die das tun, zum Beispiel Kirchen oder Parteien. Auch der Staat oder die EU haben eine gewisse Selbstreferenz, die Sicherheit gibt. Aber es gibt eben keine Institution, die darauf angelegt ist, Dinge prinzipiell in Frage zu stellen. Dabei gibt es natürlich Funktionen der Bewahrung, die mit dem, was ich Verunsicherung nenne, zusammengehen. Um zum Beispiel die vorsokratischen Papyri und Texte verfügbar zu machen, braucht man Philologen, die diese Texte bewahren sowie die Kompetenz, diese zu verstehen. Das wäre sozusagen nicht im politischen, sondern im wörtlichen Sinne eine konservative Aufgabe. Gleichzeitig sind diese vorsokratischen Texte derart verwirrend, dass sie immer, wenn sie in die Diskussion der Philosophie gekommen sind, auf produktive Weise zur Komplexifizierung der Welt beigetragen haben.

Inwieweit gibt es außerhalb der GW ein Bewusstsein für deren Aufgabe oder Bedeutung?
Gumbrecht: Die Antwort auf diese Frage hängt vom kulturellen Hintergrund des Antwortenden ab. In einer Kultur wie der angloamerikanischen sind die GW nicht unter dem subsumierenden Begriff der Wissenschaften abgehakt. In einer akademischen Kultur hingegen, wo alle Fächer einer Universität als „Wissenschaften“ gelten, entsteht der Eindruck, dass hier strenges Denken produziert und somit auch gesicherte Ergebnisse geliefert werden. Unter dieser Voraussetzung verwirrt und verwundert es, wenn die GW zur Verunsicherung und Komplexifizierung beitragen. Natürlich gibt es auch in den USA akademische Fundamentalisten, die davon überzeugt sind, dass wir nur gesichertes Wissen produzieren sollten. Aber in Ländern mit einem angloamerikanischen Verständnis von Universität ist die Toleranz größer.

Sie plädieren in Ihrem Buch „Diesseits der Hermeneutik“ für weniger Zerebralität, weniger Spezialisierung, weniger Interpretation, um es kurz zu sagen: „Mehr Intensität in der Lehre“. Wie kann man sich das vorstellen?
Gumbrecht: Ich denke, dass sich die GW – und das ist ein internationales Phänomen – zu sehr auf einen halbierten Begriff des Kritischen eingelassen haben. Sie wollen immer und unbedingt „kritisch“ sein. Geisteswissenschaftler fühlen sich ganz schlecht, wenn sie irgendetwas loben. Als ich Student war, durfte man über Hölderlin nur in der Weise reden, dass Hölderlin die sozialen und politischen Zustände seiner Zeit kritisierte. Man durfte nicht einfach begeistert sein über eine Hölderlinhymne. Ich will diesen Enthusiasmus, den man als Literaturwissenschaftler oder Philosoph haben kann, wieder zurück ins Seminar bringen und so ansteckend machen wie möglich.

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Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht bei seinem Vortrag

Sie werden oft als Provokateur bezeichnet. Gefallen Sie sich in dieser Rolle?
Gumbrecht: Ich sehe mich ganz gerne in der Rolle des Provokateurs. Wenn das, was ich sage oder schreibe, eine kontroverse Diskussion auslöst, bin ich, so banal das nun klingen mag, auch dann zufrieden, wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass ich Unrecht hatte. Wobei es in den GW selten so läuft, dass man absolut Unrecht oder absolut Recht hat. Aber daran, am Ende Recht zu haben, liegt mir eher wenig.

Es geht ja in den GW unter anderem darum, Fragen zu stellen: Haben Sie irgendwelche Fragen, die Sie sich immer wieder stellen?
Gumbrecht: Ich denke, dass sich die zentralen Fragen im Laufe meines Lebens immer wieder verschoben haben, was wahrscheinlich ein Mangel ist. Es gibt eine gewisse Kontinuität, wenn es zur nächsten Frage geht, einen gewissen Weg, den man rückblickend sieht, aber eine einzige Leitfrage, die ich mir immer wieder gestellt habe, die habe ich nicht.

Sie haben in Deutschland und den USA Geisteswissenschaften gelehrt. Inwiefern sehen Sie Unterschiede, was das gesellschaftliche Ansehen und die Förderung der Geisteswissenschaften angeht?
Gumbrecht: Die Situation ist paradox. Einerseits gibt es trotz aller Klagen der deutschen Professoren kein Land auf der Welt, in dem die Geisteswissenschaften finanziell so stark gefördert werden, wie in Deutschland. Ich will nicht sagen, dass jeder deutsche Geisteswissenschaftler opulent ausgestattet ist, aber die Möglichkeiten Forschungsgelder einzuwerben – über die DFG, die Landesförderung, die Exzellenzinitiative, den Leibnitzpreis, VW usw. – ist im Vergleich zu den USA enorm. Selbst an einer so reichen Universität wie Stanford, mit einem Grundkapital von nahezu 20 Milliarden und einem Spendenaufkommen von einer Milliarde allein im letzten Jahr, wäre es unvorstellbar ein Sonderforschungsbereich in den Geisteswissenschaften einzurichten, in dem 20-30 junge Leute für 10 Jahre nur zum Forschen bereitgestellt werden. Auf der anderen Seite stehen die Geisteswissenschaften in Deutschland trotz ihrer starken Förderung viel mehr in der Kritik als in den USA, wo es undenkbar ist, dass Eltern, die pro Jahr 50.000 Dollar Studiengebühren zahlen, es als unnötig empfinden, dass man Shakespeare oder Platon liest. Während die Geisteswissenschaften in Deutschland seit der Studentenrevolte von ‘68 ständig formal und inhaltlich in Frage gestellt werden, sozusagen einem trotzkischen Programm, einer permanenten Revolution unterliegen, ist man in den USA in diesem Sinne konservativer. Eigenartigerweise gibt es hier ein größeres Vertrauen in die Institution. Es wird überhaupt nicht in Frage gestellt, dass jemand der am College Mathematik studiert, auch ein Grundwissen in Literatur und Philosophie erwirbt.

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Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht in der Diskussion mit Prof. Dr. Jochen Hörisch

Was sicherlich auch darin begründet ist, dass es sich beim College um ein grundsätzlich anderes Gebilde handelt als bei der deutschen Universität. Wo sehen Sie die größten Unterschiede der Universitätssysteme Deutschlands und der USA?
Gumbrecht: Im Gegensatz zu Deutschland kann man in den USA nicht von „einem“ Universitätssystem reden. Natürlich gibt es auch in Deutschland, nicht zuletzt wegen der Länderhoheit bei Wissenschaft und Kultur, gewisse Unterschiede zwischen den Universitäten. Aber die sind lange nicht so groß, wie die, welche zwischen den 2500 disparaten akademischen Einrichtungen in den USA bestehen. Insofern ist jede Verallgemeinerung, die man über die amerikanischen Universitäten macht prikär. Wenn ich also jetzt über amerikanische Universitäten rede, meine ich die 10-20 Besten. Was diese Universitäten definiert, ist der Begriff „College“. Das College ist ähnlich angelegt wie das Studium Generale. Das heißt, dass die meisten Studenten, die man unterrichtet, keine Fachstudenten sind, sondern solche, die sich im Sinne eines Studium Generale kulturelle Kompetenzen aneignen möchten. Es ist sozusagen eine Selbstverständlichkeit, dass Sie, wenn Sie in Stanford oder Yale studieren, einige klassische Autoren intensiv gelesen haben und zwei neue Sprachen lernen.

Sie sagen, dass einer der Gründe in den USA zu lehren, die Herausforderung gewesen wäre, welche das Collegesystem an ihre Lehre stellt. Gibt es noch weitere?
Gumbrecht: Wenn Sie an einer der vier großen Universitäten – also Stanford, Yale, Harvard oder Princton – lehren bekommen Sie natürlich fantastische, hoch motivierte Studenten. Außerdem sind die Gehälter, aber auch bestimmte Privilegien, wie zum Beispiel ein Forschungstrimester, sehr stark von der eigenen Leistung abhängig.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Exzellenzinitiative der Bundesregierung. Befürworten Sie eine Entwicklung weg von der allgemeinen Uni und hin zur Eliteuniversität?
Gumbrecht: Es ist komplexer. Ich bin dafür, dass man einigen Universitäten erlaubt, sich sozusagen zur Exzellenz zu entwickeln. Außerdem bin ich für eine radikale Enttabuisierung des Elitebegriffs. Stanley Fish, ein berühmter Kollege von mir, hat mal gesagt: „Universities are not democratic institutions“. Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht, dass alle Professoren und Studenten gleich gut oder schlecht sind. Und was die Exzellenzinitiative angeht, bezweifle ich, dass ein tautologisches Unternehmen wie ein staatlich ausgeschriebener Wettbewerb für staatliche Institutionen der richtige Weg ist.

Herr Gumbrecht, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.