Karlsruher Gespräche 2017
Steigender Groll gegen ‘das System’: Gründe für die Krise der Europäischen Union
Prof. Alan Johnson
Referent
Statements
1. Welche „Feinde“ stellen Ihrer Ansicht nach die größte Gefahr für die pluralistische Gesellschaft dar?
Vor allem – und ganz offensichtlich – die autoritären, rechtsextremen Kräfte, und darin würde ich die Islamisten einschließen wollen. Man muss aber auch auf die sogenannten Neuen Kommunisten wie Slavoj Žižek aufpassen, die – wenn auch bislang nur schriftlich – ihre Verachtung für die liberale Demokratie zur Schau stellen, die sie als anti-menschlichen Betrug und ein Hindernis für „Revolution“, „Wahrheit“, „Heldentum“ und „Tugend“ darstellen. Sie hassen die miserable Mittelmäßigkeit und die „dummen Freuden“ des unheiligen, modernen „bürgerlichen“ Individuums, einer Gestalt, die so obszön ist, dass ihnen alle Mittel recht sind, seien sie noch so ungeheuerlich, um es zu transzendieren – dies gilt sogar als ethisches Gebot. Eine Selbstverpflichtung zum reinen Willen, eine rücksichtslose Diktatur, „göttlicher Terror“ sowie die disziplinierte Organisation gelten als notwendige Instrumente zur Abschaffung der liberalen Demokratie, und eine Sehnsucht nach Übermaß, Gewalt und Selbstaufopferung gelten als Erlösung. Aber die größte Bedrohung ist ein System: Der globalisierte neoliberale Kapitalismus zerstört den Gesellschaftsvertrag zwischen Regierungen und Völkern, auf dem das liberaldemokratische oder sozialdemokratische politische Zentrum ruht. Wie Wolfgang Streeck ausführt, fehlt es diesem System zunehmend an der Fähigkeit, „rund um den glühenden Kern der Profite einen Rahmen zu schaffen, einen sozialen Rahmen“.
2. Wie kann Ihrer Meinung nach das Vertrauen in Eliten und die Medien wieder gestärkt werden, nachdem sich seit Längerem ein Vertrauensschwund beobachten lässt?
Ich bin mir gar nicht so sicher, dass das öffentliche Vertrauen in die Medien schrumpft, aber das öffentliche Vertrauen in die Eliten schon, und zwar in dramatischem Maße. Doch das hat durchaus seine Gründe: Öffentliches Vertrauen muss man sich durch entsprechendes Handeln verdienen. Und das muss auch dringend geschehen, um Kapitalismus, Demokratie und soziale Stabilität wieder in eine mehr oder weniger harmonische Balance zu bringen. Einige wichtige neoliberale Trends müssen umgekehrt werden, so die explodierende wirtschaftliche Ungleichheit, die Verlangsamung bzw. der Stillstand der sozialen Mobilität und die Erosion der Wohlfahrtssysteme durch eine Ökonomie des Gemeinwohls. Die Krise der politischen Repräsentation muss dadurch bekämpft werden, dass man Bedenken über Masseneinwanderung und Entbehrungen ernst nimmt und diese Bedenken nicht als Bigotterie abtut oder den Leuten beiläufig mitteilt: ‚Sie können ja auch nicht sagen: Haltet die Welt an, ich will aussteigen.‘ Außerdem brauchen wir eine umfassende Dezentralisierung der Macht: Man sollte aufhören Menschen ‚mehr Europa‘ zu geben, die gar nicht ‚mehr Europa‘ wollen.
3. Auf welche Weise kann das Bewusstsein für die Vorteile von Freiheit sowie deren Wertschätzung innerhalb pluralistischer Gesellschaften gesteigert werden – besonders für Menschen, denen Erfahrungen mit Unfreiheit fehlen?
Indem wir Freiheit und Sicherheit wieder miteinander verknüpfen. Das moderne Leben hat unseren Glauben an transzendentale Autoritäten ebenso sterben lassen und die Alternativen, die wir uns ausgedacht haben – soziale Gemeinschaften mit eigener Bedeutung, wo Vorstellungen von kollektivem Wohlergehen und Gemeinwohl wuchsen und manchmal sogar erblühten; Institutionen, die zwischen Individuen und Moderne vermitteln konnten – werden heute dem Neoliberalismus geopfert. „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es gar nicht“, hat Margaret Thatcher einmal gesagt. Diese Vorstellung von Freiheit und der damit verbundene ‚neoliberale Individualismus‘ lässt die Basis der Freiheit bröckeln. Wir können diese Freiheit nicht aufrechterhalten, wenn alle längerfristigen Identitäten und alle tieferen Bindungen destabilisiert werden. Das Leben wird immer weiter fragmentiert und individualisiert, viele Menschen sind einsam und verwirrt, oft fehlt es ihnen an nachhaltigen Erlebnissen in einer stabilen Familie und Gemeinschaft, an einem gemütlichen Zuhause; es fehlt ihnen an dem Sinn, den örtliche Vereine schaffen, eine Vorstellung vom dem, was ‚Gemeinwohl‘ sein kann, und die bereichernde Gewissheit, dass man selbst Teil von etwas ist, das das eigene unbedeutende Ich übersteigt.