Abstracts der Vorträge
Radikale Transparenz: Freund oder Feind der repräsentativen Demokratie?
Andrew Keen
Ich behaupte, dass der gegenwärtige Kult um die Transparenz, der derzeit die Revolution der sozialen Medien Twitter, Facebook und WikiLeaks antreibt, die repräsentative Demokratie in Wirklichkeit schwächt anstatt sie zu stärken. Meine These ist, dass die aktuelle Vergötterung von Transparenz und Offenheit in der Realität den Aufschwung anonymer linker und rechter Ochlokratien fördert, statt für die Krise der westlichen Demokratie eine Lösung zu bieten. Denn eine funktionsfähige repräsentative Demokratie ist auf Geheimhaltung, Verzerrung und Lügen genauso angewiesen, wie auf Offenheit, Transparenz und die Mitteilung der Wahrheit.
Hör auf zu suchen, fang an zu fragen! Kritische Google-Recherche
Geert Lovink
Das Buch „The Shallows“ von Nicholas Carr brachte eine ‚neurologische Wende‘ im Bereich der Internet-Kritik. Das Multitasking und die Suche verändern allem Anschein nach das menschliche Gehirn. Doch was sind die kulturellen Implikationen unserer Suchbesessenheit? In diesem Vortrag werde ich über die verschiedenen Bestrebungen in ganz Europa berichten, sich ein kritisches Verständnis der Googlisierung der Gesellschaft zu erarbeiten, und zwar von der Volkswirtschaft über die Geschichte bis hin zur Ästhetik. Wie kann die Forschung die entscheidende Debatte um die Zukunft unserer Medienlandschaft beschleunigen und eine wichtigere Rolle darin einnehmen? Wenn die Suche unsere Fähigkeit zum Lesen längerer und schwerer Texte schwächt, wie sollte dann das Bildungswesen auf die wachsende Abhängigkeit von Google reagieren?
Die Google-Generation – verdummte oberflächliche Informationskonsumenten?
David Nicholas
Die virtuelle Revolution ist in vollem Gange und transformiert zahlreiche Aspekte des täglichen Lebens: Wie wir Kontakte pflegen, einkaufen, uns unterhalten, uns Wissen und Informationen aneignen, für unsere Gesundheit sorgen und mit kommunalen Dienstleistern umgehen, hat sich tiefgreifend verändert. Diese Veränderungen geschahen in bemerkenswert kurzer Zeit, was die Frage aufwirft, wie die Kinder und Teenager von heute, die ‚Generation Google‘, die nur wenig oder keine Erinnerung an eine Zeit vor Breitband, Mobilfunktechnologien und der allgegenwärtigen Suche (Google) haben, die Lage meistern werden. Die große Frage, die alle fasziniert (oder beunruhigt) – Eltern, Lehrer, Dozenten und Arbeitgeber – ist, ob sich diese Generation bei der Informationssuche, dem Leseverhalten und sogar der durch neu ‚verdrahtete‘ Gehirne veränderten Denkweise grundlegend von vorangegangenen Generationen unterscheiden wird, wenn sie in Universitäten und auf den Arbeitsmarkt drängt. Falls dies tatsächlich der Fall sein sollte, werden sich bestehende Einrichtungen fundamental ändern müssen, wenn sie der Marginalisierung entgehen wollen. Die Ergebnisse der Forschungsgruppe CIBER über das Verhalten der Generation Google in einer virtuellen Umgebung wurden dieses Jahr von der BBC in einer Fernsehreihe zur virtuellen Revolution vorgestellt und sie werden außerdem Thema dieses Beitrags sein.
Tatort Internet – Herausforderung für Politik, Bildung und Erziehung
Catarina Katzer
Die vielen positiven Auswirkungen der global agierenden Datenautobahn „Internet“, dürfen den Blick nicht vor den Gefahren verschließen, die in der virtuellen Welt lauern: Denn sie bietet auch ideale neue Tatorte für aggressives Verhalten wie Mobbing und Psychoterror, Straftaten wie Betrug, Erpressung, Diebstahl oder sexuelle Gewalt, Kinderpornografie und vieles mehr. Damit zeigt sich deutlich auch eine dunkle Seite des World Wide Web. Gerade die Vernetzung verschiedener technologischer Equipments miteinander wie Internetkommunikation (Chatrooms, Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, Videoplattformen wie Youtube, Clipfish, Blogs u.s.w.) und Foto- oder Video-Mobilfunktelefonie lassen neue Phänomene wie Happy-Slapping, Cybermobbing, Cyberstalking oder Cybercrime entstehen und machen ihre Ausübung so einfach: Innerhalb von Sekunden können verbale Beleidigungen, Gerüchte, Verleumdungen, Fotos oder Filmsequenzen, die Vergewaltigungen oder Mitschüler in peinlichen Situationen zeigen, über Chatrooms, Soziale Netzwerke oder Video-Portale Hunderttausenden zugänglich gemacht werden. Damit verändert sich auch die Situation der Opfer: Die Viktimisierung ist öffentlich und sie kann im Netz nicht mehr gelöscht werden, d.h. sie ist endlos. Vor dem Hintergrund, dass das Internet von einem sehr jungen Publikum täglich genutzt wird und die Bedeutung des Netzlebens für diese jungen User stetig wächst, ist das Internet in Zukunft auch als Bildungs- und Sozialisationsmedium kritisch zu betrachten, z.B. die sich aus medienethischer Sicht ergebenden Konsequenzen für die Vermittlung von Normen und Werten unserer Gesellschaft oder die Veränderung der Täter- Opfersituation durch die Verübung der Taten im Netz. Eltern, Lehrer, Pädagogen und Politiker sehen sich vor einer schwierigen Aufgabe und es stellt sich die Frage: Vor welche neuen Herausforderungen stellt das Medium Internet die Bereiche Erziehung, Bildung aber auch die politischen Akteure? Denn nicht nur Erziehungs- und Bildungsinstitutionen müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen, auch Justiz und Rechtssystem, Exekutive und Legislative.
Cybersecurity – eine internationale Aufgabe: Big Brother trifft auf den Herrn der Fliegen
Richard H. Harknett
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts finden wir uns entgegen der eigenen Intuition mit einer digitalen Infrastruktur wieder, deren Form dem genauen Gegenteil der ursprünglichen Ziele der Netzwerkarbeit entspricht. Die Kernelemente des Cyberspace – digitale Technologie und Benutzeroberfläche – sind zu einer Welt systembedingter zentraler Schwachstellen verschmolzen. Diese technologische Evolution bedroht die globale Situation, da die Fähigkeit zur Ausübung großen Schadens nun von nur wenigen kontrolliert wird. In industriellen und vorindustriellen Gesellschaften war zur Entwicklung der Fähigkeit, großen und anhaltenden Schaden anzurichten, immer auch großer Aufwand nötig; folglich wurde der Territorialstaat zum fähigsten Akteur der Welt, da er die modernen Technologien durch seine staatlichen Strukturen zur Produktion kolossaler Armeen und Waffen nutzen konnte. Ende des 20. Jahrhunderts erreichte diese staatliche Infrastruktur mit der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen ihren Höhepunkt. Das digitale Zeitalter hat diese Relation zerschlagen. Zur Hervorbringung der Fähigkeit, großen und anhaltenden Schaden anzurichten, wird ein riesiges staatliches Gefüge nicht länger benötigt. Folglich ist die Welt nun mit der Aussicht konfrontiert, sich vor den „Wenigen“ in Acht nehmen zu müssen – denjenigen, die so unzufrieden sind, dass sie an dem gegenwärtigen System kein Interesse haben. Diese Präsentation bietet eine Matrix konzeptioneller Rahmen zur Beziehung zwischen digitaler Technologie, Staatsmacht sowie der Einzelperson in der Gesellschaft und zur Frage, wie internationale Bemühungen auf die Herausforderung der Sicherung des Cyberspace aussehen sollten.
#iranelection: besitzt Twitter revolutionäres Potenzial?
Kuros Yalpani
Die unmittelbar auf die iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 folgenden Proteste zogen die internationale Aufmerksamkeit – wie von den Medien behauptet wurde – hauptsächlich durch Demonstranten auf sich, die über digitale soziale Netzwerke wie Twitter über das Geschehen berichteten. Allerdings deuten seither in verschiedenen Studien gesammelte Daten darauf hin, dass digitale soziale Netzwerke – wenn überhaupt – nur eine nebensächliche Rolle spielten. Die Dynamik der Proteste war größtenteils das Produkt erheblicher Unzufriedenheit eines großen Bevölkerungsanteils mit der Regierungspolitik und die allgemeine Tendenz, die (Post)-Modernisten gegen die traditionellen Mächte auszuspielen. Paradoxerweise hielten die Proteste genau deswegen an, weil sie zur Propagierung nicht auf (bestimmte) Technologien angewiesen waren. Dieser Vortrag erklärt kurz die Hintergründe zur Nutzung des Cyberspace im Zusammenhang mit der iranischen Politik und macht deutlich, warum er nur eine geringfügige Rolle bei der Organisation spielt.
Internetzensur in China und die Rolle des Internets in Demokratisierungsprozessen
Joseph Cheng
Die chinesischen Behörden üben eine sehr strenge Kontrolle über das Internet aus; und diese Kontrolle hat sich mit der Verbreitung des ‚Netzbürgers‘ in China noch verstärkt. Es gibt ein Regulierungssystem, das die Zentralregierung mit den lokalen Regierungen niedrigster Ordnung vertikal verknüpft und auf horizontaler Ebene viele Regierungsbehörden einbezieht. In Bezug auf ihre Kontrolle des Internets werden sie zukünftig auf branchenweite Selbstdisziplin angewiesen sein. Trotz dieser strikten Kontrollen ändert sich jedoch nichts daran, dass das Internet und die öffentliche Meinung im Internet aus dem Leben der Chinesen nicht mehr wegzudenken sind und sie auch weiterhin das Ausmaß der Redefreiheit erweitern und gesellschaftlichen Wandel fördern werden. Es wird erwartet, dass das Internet eine größere Partizipation der Bürger ermöglicht.
Massenkreativität online
David Rowan
Die kreative Revolution der Massen: Das Internet beseitigt kontinuierlich Einrichtungen, die der menschlichen Kreativität im Wege stehen. Vom gemeinschaftlichen Filmemachen bis hin zu Mikrokrediten beweisen Online-Netzwerke, dass fremde Menschen sich gegenseitig vertrauen und zum größeren Wohle der Allgemeinheit zusammenarbeiten können. Dies ist Anlass zum Optimismus und zu mehr Partizipation – worauf warten Sie also noch?
Social Networks und ihr Einfluss auf die Offline-Welt
Prof. Dr. Reima Suomi (Finnland)
Menschen haben seit jeher soziale Netzwerke gebildet, doch das Internet und andere neue Medien haben es einfacher denn je gemacht, unabhängig von Zeit und Raum soziale Netzwerke zu gründen, ihnen beizutreten und zu partizipieren. In sozialen Netzwerken können sogar die Schüchternen und nicht so Kommunikationsgewandten eine ebenbürtige Rolle spielen. Soziale Netzwerke im Internet haben außerdem einen gewaltigen Effekt auf die Ereignisse in der realen Welt außerhalb der Kommunikationsnetzwerke und plattformen. Gemeinsame soziale Vorstellungen und Entscheidungen, einschließlich Entscheidungen über den Einsatz von Geld, werden im Internet effektiv, schnell und oft auf überraschendem Wege getroffen. Es wäre auch ein großer Fehler, zu glauben, dass soziale Netzwerke im Internet kontrollierbar sind: Im Gegenteil, sie formulieren ihre eigenen Maßnahmen und Prozesse und eine Kontrolle derselben ist so gut wie unmöglich. Kein Teil der Gesellschaft kann die Potenziale und Bedro-hungen der im Internet geformten sozialen Netzwerke ignorieren. Politische und demokratische Prozesse können durch soziale Netzwerke verbessert werden und viele Dienstleistungen, die derzeit von öffentlicher Hand angeboten werden, können zumindest teilweise durch Peer-to-Peer-Dienste im Internet ersetzt werden. Dasselbe gilt für gewerbliche Dienste: Manche werden durch Maßnahmen in sozialen Netzwerken ersetzt, andere werden durch sie neu angekurbelt.
Wie Jihadisten über Facebook neue Freunde finden
Mina Al-Lami (Irak/Großbritannien)
Soziale Netzwerke spielen bei der Verbindung von Menschen, Weitergabe von Informationen und Mobilisierung der Massen eine revolutionäre Rolle. Man muss sich nur die kürzlich oder gegenwärtig in der arabischen Welt stattfindenden Ereignisse anschauen, bei denen Webseiten wie Facebook und Twitter bei der Organisation von Protesten eine entscheidende Rolle gespielt haben, um ihr wahres Potential zu erkennen. Die globale Reichweite und Attraktivität solcher Plattformen sind der Aufmerksamkeit der Dschihadisten, die ständig nach neuen Wegen zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Gewinnung neuer Rekruten suchen, nicht entgangen. Angesichts der anhaltenden Angriffe auf und Schließungen von Dschihadisten-Foren haben Dschihadisten damit begonnen, nach Plattformen zu suchen, die zum einen nicht geschlossen werden können und zum anderen ein breiteres Publikum bieten. Facebook schien eine solche Möglichkeit zu bieten. Bisher gründeten Dschihadisten zwei bedeutende, der Al-Qaida nahestehende Facebook-Gruppen, die beide nach Warnungen von Medien- und Regierungsorganen geschlossen wurden. Nachdem sie ihren Fehler erkannt hatten, nämlich „eine einzige Gruppe aufzubauen, die mit einem einfachen Mausklick geschlossen werden konnte“, beschlossen die Dschihadisten, ihre Strategie zur „Invasion von Facebook“ zu ändern. Haben die Medien und ein kürzlich erschienener Bericht des amerikanischen Heimatschutzministeriums die Bedrohung durch Al-Qaida auf Facebook übertrieben oder sollten wir uns Sorgen machen? Was sind die Vor- und Nachteile, die Facebook Dschihadisten bieten kann und welche Auswirkungen kann die Anwesenheit von aktiven Dschihadisten-Zellen auf Facebook haben?
Soziale Netzwerke – Spiegel und Prägestempel der Gesellschaft
Philippe Gröschel (Deutschland)
Das Internet ist zum multifunktionalen Leitmedium der heranwachsenden Generation geworden. 93% der jungen Menschen in Deutschland surfen täglich und verwenden das Medium dabei auch verstärkt zur Kommunikation im Freundeskreis und in der Gesellschaft. 70% der Kinder und Jugendlichen loggen sich Tag für Tag in Soziale Netzwerke ein und veröffentlichen dabei nicht selten auch eigene Informationen. Die Nutzung von Onlinemedien ist für Jugendliche zur Selbstverständlichkeit und Lebenswirklichkeit geworden und wirft dringende Fragen nach dem Umgang mit ihren personenbezogenen Daten auf.
Zudem stellen wir fest, dass gesellschaftliche Phänomene wie Mobbing, politische Agitation, Zugang zu jugendgefährdenden Inhalten und Risiken in den Kontakten zwischen sich unbekannten Kindern und Erwachsenen von der realen Welt auch in Onlinemedien übertragen werden und dabei besondere Risiken für Kinder und Jugendliche entstehen. Jugendgefährdende Inhalte und Problemsituationen in sozialen Gefügen entwickeln aber nicht primär in Sozialen Netzwerken, sondern werden von deren Nutzern aus anderen Kontexten abgelöst in die Netzwerke übertragen.
Auch der Umgang mit und das Verständnis von Medien befinden sich in einem epochalen Umbruch. Während in der Vergangenheit überwiegend lineare Medien wie Zeitung, Radio oder Fernsehen rezipiert wurden, können die Nutzer von sogenannten Web 2.0 Angeboten heute zu dynamischen Medien selbst beitragen, eigene Inhalte verbreiten und an Diskussionsprozessen aktiv teilnehmen. Der Leserbrief wird durch die Kommentarfunktion ergänzt, Musiker werden ohne Plattenlabel berühmt und Blogger betreiben Magazine, die von Tausenden gelesen werden, ohne dass dafür je eine Druckmaschine in Gang gesetzt wurde. Dies führt insbesondere auch dazu, dass die „Gatekeeper“-Funktion klassischer Medienmacher zunehmend geschwächt wird.
Der Vortrag widmet sich diesen Veränderungsprozessen der Kommunikationskultur und zeigt aus der Sicht der praktischen Arbeit eines Betreibers auf, wie Reales und Virtuelles zunehmend verschmelzen.
Impulsreferat
Dr. Rainer Stentzel (Deutschland)
Alltägliche Nutzung und öffentliche Wahrnehmung des Internets bilden bisweilen einen bemerkenswerten Kontrast. Das Internet ist Arbeitsplatz, Kontaktbörse, Lexikon, Warenhaus und vieles mehr. Wir nutzen die neuen Freiheiten gerne und in der Regel unaufgeregt. Gleichzeitig bestaunen wir Phänomene wie WikiLeaks und neigen dazu, diese zu verklären oder zu dramatisieren. Bei allen Chancen, die das Internet bietet und allen Risiken, die es birgt: Wir befinden uns Online weder im Paradies noch auf dem Schlachtfeld. Das Internet ist Teil unserer realen Welt. Es gelten die gleichen Wertmaßstäbe. Das Internet ist ein neues Vehikel zur Persönlichkeitsentfaltung und Freiheitsverwirklichung nicht aber der Inbegriff einer neuen (absoluten) Freiheit an sich. Netzfreiheit darf nicht als Ellbogenfreiheit missverstanden, eine erzwungene und ungeordnete Transparenz nicht mit Demokratie gleichgesetzt und digitale Gewaltanwendung darf nicht per se zum Kriegsfall hochstilisiert werden. Freiheit und Demokratie, Transparenz, Krieg und Frieden – wer solche Begriffe im digitalen Zeitalter vorschnell neu definiert und damit nicht selten radikalisiert, stellt – bewusst oder unbewusst, gewollt oder nicht gewollt – bestehende Grundwerte unseres Zusammenlebens und unserer Rechtsordnung in Frage. Verbale Aufrüstungen helfen nicht weiter, wenn es darum geht, die vielfältigen und z.T. aus heutiger Sicht noch verborgenen Chancen des Internets zu nutzen und Risiken angemessen einzuschränken. Eine solide Netzpolitik verlangt vor allem eins: Sachlichkeit.